Deutschland ab vom Wege by Henning Sußebach

Deutschland ab vom Wege by Henning Sußebach

Autor:Henning Sußebach [Sußebach, Henning]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783644055414
Herausgeber: Rowohlt E-Book


Ich war allein losgelaufen an der Ostsee, ohne Freund, ohne Hund, ohne Stock. Mittlerweile hatte ich Begleiter, wenn auch unsichtbare. Ich bekam SMS-Nachrichten, besorgte von Ute und Wolfgang, anspornende vom Schlachter aus Dobbertin. Ich sagte Liviu und Simona, was ich ihnen beim Essen nicht gesagt hatte, empfahl ihnen in Selbstgesprächen Ausflüge nach Magdeburg und Wolfsburg, wenn sie schon bleiben würden. Auf leisen Sohlen schloss hin und wieder der Wirt des Schlosshotels auf und mahnte, ein Auge für versteckte Kunstschätze zu haben. Über alle Phantome beugte sich AfD-Günther wie ein Erinnerungsriese am Ende der Gruppe.

So zog durch Sachsen-Anhalt eine Geisterprozession, die nur ich sah, Giganten und Zwerge, die wuchsen und schrumpften, denen sich immer wieder neue Gestalten anschlossen, während andere zurückfielen ins Vergessen. Ich begann, Erinnerungen und Wochentage durcheinanderzubringen; nichts in der Heidelandschaft nördlich von Magdeburg unterschied einen Montag von einem Mittwoch oder Freitag. Die Zeit hatte ihr Raster verlassen. Nur noch selten dachte ich: «Gerade sitzen die Kollegen in einer Konferenz zusammen … gleich werden in der Bundesliga die Spiele angepfiffen.» Öfter aber: «Jetzt wird zu Hause der Tisch gedeckt.»

Ein Begleiter war lästig, er ließ sich nicht abschütteln. Es war der Durst. Die Ebene gab Nahrung, aber kein Wasser, dem ich traute. Nichts floss, alles stand, vieles stank nach Gülle. Ich fragte bei Bauern und über die Zäune von Schrebergärten, die in leicht überbrückbaren Abständen übers Land gestreut waren, meine neuen Raststätten. Immer bekam ich zu trinken, manchmal schlossen sich Spender kurz meiner Geisterprozession an, aber vorweg ging nun ein Nörgler. Und das war ich.

Seit dem Darß hatte ich Sand unter den Füßen. Alles roch nach mir, und ich roch mich in allem, der Wäsche, dem Schlafsack, dem Handtuch, dem Zelt. Im Schraubgewinde der Wasserflaschen blühte Schimmel, seit mir ein Kleingärtner Apfelschorle gemischt hatte. Ich vermisste: einen Espresso, einen Stuhl, ein Bett, eine Badewanne, eine halbe Stunde mit einer Zeitung am Esstisch, einen vertrauten Ausblick aus einem vertrauten Fenster, einen beiläufigen Griff in den Kühlschrank, die augenblickliche Verfügbarkeit einer kalten Cola, eine Kugel Eis in der Waffel, den Duft frischer Bettwäsche, auf einen Schalter drücken zu können, um Licht zu haben, einen ans Sofa verschenkten Abend, eine Familie.

Mehr als alles vermisste ich ein Glas Milch. Zu Hause trank ich nie Milch, jetzt hätte ich meine Stiefel dafür gegeben. Immer nur Obst, Obst, Obst, nie Käse, nie Joghurt, nichts Gekühltes und nichts Erhitztes, alles auf Zimmertemperatur. Noch ein Wort, das nicht mehr passte. Draußentemperatur hätte gestimmt.

Ich musste stehen bleiben, um nachrechnen zu können, wie lange ich unterwegs war. Siebzehn Tage. Ich war vorangekommen, hinter mir lagen fast dreihundert Kilometer. Auch hatte mir das Bild meiner selbst – Mann, Rucksack, Hut – immer besser gefallen. Und mein Körper überraschte mich. Ich war in einem Alter, in dem das eigene Fleisch zum Feind wird, weil es nicht mehr leistet, was der Kopf von ihm verlangt. Weil es – in Form von Fett und Falten – dem Kopf, diesem großen Illusionskünstler, das wahre Alter vorhält. Als ich ein Junge war, empfand ich wie jeder



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